Töne
Von Hans Karl Stephan Böhme, im Juni 2020 Karlchen saß auf dem Brett vor seinem Fenster und sah hinaus. Draußen schien die Sonne. Am strahlend blauen Himmel hefteten ein paar schneeweiße bauschige Wölkchen, die regelmäßig ihre Form wechselten. Mal eine alte Frau, mal ein Auto, mal ein Tiger. ...
Karlchen saß auf dem Brett vor seinem Fenster und sah hinaus. Draußen schien die Sonne. Am strahlend blauen Himmel hefteten ein paar schneeweiße bauschige Wölkchen, die regelmäßig ihre Form wechselten. Mal eine alte Frau, mal ein Auto, mal ein Tiger.
Auf der Straße fahren Autos. Die Fahrer hatten fast alle ihr Fenster herunter gekurbelt und versuchten so, ein wenig frische Luft abzubekommen. Fußgänger schleppten volle Einkaufstaschen nach Hause. Dabei schien ihnen fast die Luft wegzubleiben. Alle hatten rote Köpfe. Auf Karlchen machte es den Eindruck, dass sie alle etwas taten, zu dem sie keine Lust hatten, weil niemand von den Menschen ein freundliches Gesicht machte. Sie blickten mürrisch und fuhren und schleppten und japsten.
Karlchen fragte sich, warum sich die Menschen so etwas antun. Warum machen sie nicht das, woran sie Spaß hatten.
Er selbst war überzeugt, dass er gut singen konnte. Er bewunderte die Frontsänger seiner Lieblingsgruppen Uriah Heep, oder Nazareth. Aber auch die Liedermacher Hannes Wader, Konstantin Wecker, Georg Danzer und so weiter. Eigentlich alle, die Musik machten und sangen. Vor Allem das Singen imponierte ihn und machte ihm riesigen Spaß.
Deshalb hatte er auch vor Kurzem in der Schule laut und inbrünstig mitgesungen. Karlchen war umgezogen und hatte die Schule wechseln müssen. In der neuen Schule hatte er bei einer sehr alten Frau Religion. Sie war riesig groß, dürr, hatte hochgesteckte weiße Haare, lange rote, spitze Fingernägel und Schuhe mit einem ganz hohen Ansatz, die fürchterlich knallten, wenn sie ging. Ihre knallrot angemalten Lippen, wirkten wie aufgeklebt und passten gar nicht zu ihrem sonst so weißem, faltigen Gesicht.
Nach einem eher mürrischen „guten Morgen, Kinder“, als sie die Klasse betreten hatte, musste Karlchen, wie alle seine Klassenkameraden auch, das Gesangsbuch aufschlagen und die erste Strophe des angesagten Liedes anstimmen. Nach den ersten paar Tönen, brach sie ab und hieß alle an aufzustehen, damit das Zwerchfell atmen könne. Niemand hatte auch nur annähernd eine Ahnung davon, wer oder was dieses komische Fell war, oder ob es überhaupt jeder hatte, oder wo es steckte. Aber alle standen auf.
Nachdem sie das Lied erneut angestimmt hatten, ging sie durch die Reihen und hörte genau hin. Dabei murmelte sie ständig „Da brummt was, da brummt was“. Dann geschah es. Sie stockte vor Karlchen und sagte ihm, er solle aufhören und sich hinsetzen. Nichtsahnend tat Karlchen, wie ihm gesagt.
Als er saß trafen ihn die Worte dieser alten, dürren Frau wie ein Messer ins Herz. „Ja, jetzt ist es besser!“.
Karlchens Gesangeskarriere fand am Anfang der dritten Klasse ein jähes Ende und sein Selbstwert erlitt einen kräftigen Dämpfer.
Vor Allem, weil er jetzt wohl nie mehr in der Lage sein würde das zu tun, was ihm bis dahin immer so viel Spaß
gemacht hatte. Zu singen.
…
Und heute?
Karlchen singt auch heute nur alleine für sich und träumt ab und zu wieder davon, auf einer Bühne zu stehen, zu singen und die Leute, die ihm zuhörten, zufrieden applaudieren zu hören. Dieser Traum ist erst seit Kurzem wieder zurück gekommen. Jahrzehnte hatte er ihn komplett verloren und verdrängt und begraben.
Hans Karl Stephan Böhme, im Juni 2020
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